von Judith Kessler anlässlich des Konzerts am 13.6.2022 mit Georg Streuber und Markus Syperek auf der MS Goldberg
Hans Krieg. Er hat nicht mal einen deutschen Wikipedia-Eintrag und teilt das Schicksal vieler verfemter, vertriebener oder ermordeter jüdischer Komponisten. Sie sind vergessen!
Doch kommenden Montag (13. Juni, 19 Uhr) geben uns Georg Streuber-Chraniuk (Bariton) und Markus Syperek (Klavier) Gelegenheit, die erstaunlich facettenreiche, wunderschöne Musik Hans Kriegs kennenzulernen – auf dem Jüdisches Theaterschiff MS Goldberg in Berlin-Spandau. Eine besondere Freude: Mirjam Krieg, die inzwischen 89-jährige Tochter des Komponisten, reist extra aus Amsterdam an (und ich darf ihr ein paar Fragen stellen).
Aber wer ist nun dieser Hans Krieg? Der Sohn von Helene Proskauer aus Oppeln und des Lederwarenfabrikanten Hugo Krieg aus dem polnischen Koło wurde 1899 im schlesischen Haynau geboren. Schon sein Großvater Moses Selig Krieg war Chasan (Kantor) gewesen und Musik spielte in seinem Elternhaus eine wichtige Rolle. Mit sechs Jahren spielte Hans bereits Klavier, zwei Jahre später begann er zu komponieren. Natürlich studierte er Musik und er hatte die besten Lehrer seiner Zeit, wie Humperdinck in Leipzig und Ochs und von Rezniček in Berlin.
Ab 1923 arbeitete Krieg als Chorbegleiter, Operndirigent und Komponist an den führenden Theatern in Deutschland und Zürich. Ab 1928 leitete er in Breslau den Chor der jüdischen Gemeinde und Arbeiterchöre. Seine Liebe zur Stimme zeigt sich in einer Reihe von Vokalwerken, die eine raffinierte, poetische Qualität im spätromantischen Stil und den Einfluss seiner Vorbilder Brahms und Mahler aufweisen. Auch seine Musik zu Franz Werfels „Paulus unter den Juden“ wurde begeistert aufgenommen, unter anderem von Max Brod.
1929 heiratete Hans Krieg die 24-jährige Regina Rachel Sternlieb aus Hinterwalden (Zaliszczyki, damals Österreich-Ungarn, heute Ukraine). Im Jahr darauf wurde beider Tochter Susanne Rachel geboren. Bereits kurz nach der Machtübergabe an Hitler erschienen 1933 Karikaturen von Krieg in NS-Zeitschriften. Hans Krieg floh mit Frau, Tochter, Bruder, Schwester, Mutter und Schwiegermutter in die Niederlande. Die zweite Tochter, Mirjam, kam noch im selbem Jahr in Amsterdam zur Welt. Krieg nahm jeden Job an, um seine Familie über Wasser zu halten: Er kopierte Partituren, schrieb Artikel über jüdische Musik und Musiker für Lexika, unterrichtete Musik und war als Rundfunksprecher, Dirigent (u.a. der „Joodsche Orkestvereeniging Amsterdam“), Organist, Chorleiter, Korrepetitor und Sprecher unterwegs. Und Krieg „integrierte“ sich in die niederländische Gesellschaft, wie sein Festlied anlässlich der Geburt von Prinzessin Beatrix aus dem Jahr 1938 zeigt.
Nach der Besetzung der Niederlande schrieb er für die politische Kabarettsendung des VARA-Radios Chansons und Lieder für Ernst Busch, Dora Gerson und Chaja Goldstein zu Texten von Zweig, Tucholsky, Klabund und anderen Wortgewaltigen. „Diesen Größen musikalisch gerecht zu werden verstand Hans Krieg auf eigene, oft erhaben oder beißend sarkastische Art und Weise, indem er melodramatische Passagen, Psalmgesänge, Kunstlied und Chanson gleichberechtigt nebeneinanderstellte“, schreibt sein Interpret Georg Streuber.
Doch im Mai 1943 wurde die Familie gezwungen, auf den Afrikanerplein, ein ausschließlich jüdisches Viertel, umzuziehen. Einen Monat später wurde Hans Krieg bei einer Razzia verhaftet und kurz darauf die gesamte Familie in das Durchgangslager Westerbork deportiert. Der musikbesessene Krieg schaffte es, dort weiter Musik zu machen. Bei der „Dienstagsrevue“ war er Arrangeur, Korrepetitor und spielte im Orchester. Er leitete den Kinderchor und unterrichtete Mithäftlinge. Er sang, um die Moral hochzuhalten, und begleitete sich selbst auf der Gitarre oder Blockflöte, die er aus Deutschland mitgebracht hatte.
Ein Mithäftling: „Der eindrucksvollste Bursche in unserer Baracke Nr. 68 ist der Musiker Hans Krieg. Jeder im Lager kennt seine stämmige Figur. Er trägt immer eine schmierige braune Baskenmütze und geht mit seinem Beutel voll mit Musikbüchern und Kompositionen von einer Baracke zur nächsten, um die Kinder zu unterrichten. (…) „Und er wiederholt zum x-ten Mal irgendein jiddisches oder hebräisches Lied. Das ist seine Stärke, Jiddisch und Hebräisch. In der Sekunde, in der er die ersten Akkorde auf seiner Gitarre anschlägt, verwandelt sich sein ganzes Wesen wie von Zauberhand. Er singt nicht oder rezitiert seine Lieder, er lebt sie! (…) Wenn ich in Zukunft an W’bork zurückdenke, wird einer der wenigen Lichtblicke, die für mich mit W’bork verbunden sind, darin bestehen, Hans Krieg getroffen und ihm zugehört zu haben.“
Währenddessen entkam die Familie zweimal einem Transport nach Auschwitz, weil die Töchter auf die Krankenstation eingeliefert wurden, und beim dritten Mal dank Kriegs Schwiegermutter. Ihr war es gelungen, die Familie auf der „Palästina-Austausch“-Liste des Roten Kreuzes unterzubringen, was das „Privileg“ bedeutete, in ein Austauschlager transportiert zu werden. So kamen Hans, Regina, Susanne und Mirjam im Januar 1944 in das KZ Bergen-Belsen. Von Palästina war keine Rede mehr. Krieg musste in der Schuhfabrik arbeiten, seine Frau in der Suppenküche. Dem Motto „Musik ist Nahrung für die Seele“ blieb Hans Krieg auch hier treu; gegen jeden Befehl versuchte er seine Mithäftlinge und die Kinder aufzumuntern, indem er mit ihnen zusammen holländische und hebräische Volkslieder sang.
Im April 1945, kurz vor der deutschen Kapitulation, wurden die verbliebenen Mitglieder der Familie – Hans Kriegs Mutter Helene war schon 1943 in Sobibór ermordet worden, seine Schwiegermutter Josefine Sternlieb 1944 in Auschwitz – in einen Güterzug gepfercht, der nach Theresienstadt gehen sollte. Der sog. „verlorene Transport“ fuhr tagelang ziellos zwischen den Frontlinien herum. Schließlich, nach 13-tägiger Irrfahrt, wurden die Insassen des Geisterzuges am 23. April 1945 bei Tröbitz in Brandenburg von der Roten Armee befreit.
Im Juni kehrten die vier Kriegs nach Amsterdam zurück. Da sie keine Niederländer waren, wurden sie zusammen mit Mitgliedern der holländischen nationalsozialistischen Bewegung in einem Internierungslager in Limburg festgehalten. Hans musste nach dieser nächsten Horrorepisode stark geschwächt in ein Krankenhaus eingeliefert werden.
Hier blieb er einen Monat, doch schon im Oktober 1945 gab er im „Nieuw Israëlietisch Weekblad“ eine Anzeige auf und bot sich als Lehrer, Dirigent, Begleiter und Komponist hebräischer und jiddischer Lieder und Musik an. Im November trat er wieder auf. Wie vor dem Krieg arbeitete er in vielen Disziplinen: als Korrepetitor bei Konzerten in der Synagoge, Dirigent der Niederländischen Operetten-Amateurgesellschaft, Sänger, Rundfunksprecher, Kopist von Partituren, Komponist und Lehrer. In Apeldoorn gab er etwa fünfhundert Kindern Musikunterricht, unterrichtete liturgische und weltliche Musik am Amsterdam Music Lyceum, leitete jüdische Kinderchöre, schrieb viele witzige Kinderlieder, tourte mit Vorträge über jüdische Musik durchs Land und verfasste über dreißig wissenschaftliche Publikationen zur jüdischen Musik, für die er alte Musikquellen studiert und chassidischen Sängern zugehört hatte.
Hans Krieg hatte einen eigenen Verlag, die „Jewish Music Editions Kadimah“, und alle seine Partituren, mit großer Genauigkeit handgeschrieben, sie sahen aus wie gedruckt und wurden genau so von einer Fotoreproduktionsfirma vervielfältigt. Besonders seine Nachkriegskompositionen haben jüdischen Charakter, wie „Eli Eli“ von 1947 und „Waar bleven de Joden van ons Amsterdam“? (Wo sind die Juden unseres Amsterdams?), ein Lied zum Gedenken an die Deportierten. Aber Hans Krieg war auch ein begeisterter Chormusiker. Er leitete den „Amsterdams Jewish Men’s Choir“, gründete den Frauenchor „Hasjier Hajehoedie“ und komponierte für beide Chöre, die häufig im Radio und Fernsehen auftraten, die Einweihung der Synagogen in Antwerpen und Rotterdam begleiteten und zum Tag der Befreiung 1955 in „seinem“ Lager Bergen-Belsen auftraten. Ein anderer Höhepunkt war 1960 die Aufführung seines Requiems „Jiskor“, einer sechssätzigen Gedenksymphonie, die von Radio Jerusalem am Jom Haschoa ausgestrahlt wurde.
Hans Krieg hat das jüdische Musikerbe bewahrt, ihm originäre Werke hinzugefügt und seine melodische Stimme machte ihn zum idealen Interpreten dieses Repertoires. Er und seine Tochter Mirjam, die ebenfalls Sängerin wurde, waren ein eingespieltes Team. Sie gaben Konzerte und Abende zur Geschichte der jüdischen Musik und Hans begleitete Mirjam am Klavier. Sie veröffentlichten auch zwei Alben; das dritte kam nicht mehr zustande, da das Herz des Komponisten am 26. November 1961 nach einer Chorprobe stehen blieb.