Wo man den Rabbi trifft – und bald auch den Imam

Peter Sauerbaum spricht mit der Berliner Morgenpost über die Zeit seit dem Terroranschlag auf Israel.

Das Interview führte Volker Blech.

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Die MS Goldberg hat wieder in Berlin angelegt. Das Jüdische Kulturschiff liegt derzeit am Schiffbauerdamm in Mitte, um das nächste eigene Theaterstück „shangHaimat“ zu proben. Die Premiere ist am 17. Dezember. Angesichts des Nahostkriegs mit seinen Auswirkungen auch auf Deutschland wird es keine normale Premiere sein. Ein Gespräch mit dem Intendanten Peter Sauerbaum.

Herr Sauerbaum, wo waren Sie gerade mit dem Jüdischen Theaterschiff am 7. Oktober, dem Tag, als die Hamas-Terroristen Israel überfielen?

Peter Sauerbaum: Wir sind am 7. Oktober in Eisenhüttenstadt gewesen, weil wir auf Tournee durch das Land Brandenburg waren. Die Tournee begann am 26. September, laut Plan reisten wir von Eisenhüttenstadt, über Frankfurt/Oder nach Schwedt an der Oder und weiter nach Brandenburg an der Havel. Wir waren entsetzt und fragten uns sofort, was das für unsere Tournee bedeutet? Intern haben wir unsere Sicherheitsvorkehrungen verdoppelt. Von der Polizei wurden wir die ganze Tournee über gut betreut. Insgesamt haben wir keine schlechten Erfahrungen gemacht. Das Publikum strömte in Scharen herbei. Es gab keine Beleidigungen. Viele im Publikum empfanden ihr Kommen als Statement, sich mit dem jüdischen Leben in Deutschland zu solidarisieren.

Es gab also keinerlei Zwischenfälle?

Die einzige negative Erfahrung machten wir in Schwedt, wo uns ein Reifen des gesponserten SUVs zerstochen wurde. Die Polizei ermittelt. Es gibt ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit, aber wir haben keine unmittelbare Bedrohung erlebt.

Das Gefühl von Bedrohung hat aber reale Hintergründe, wenn etwa in Berlin Davidsterne an Wohnhäuser gemalt werden, in denen jüdische Familien leben. Das ist passiert.

Dass man persönlich attackiert werden kann, das haben meine verstorbene Frau Noa und ich vor Jahren schon in Spandau erfahren. Die Reifen unserer Autos sind viermal zerstochen worden. Einmal flog mir bei Tempo 140 ein Reifen – da fuhr ich gerade mit meinem damaligen General musikdirektor Howard Griffiths von Frankfurt/Oder nach Berlin – um die Ohren. Man stellte fest, dass der Vorderreifen angeschnitten worden war. Wir hatten den polizeilichen Staatsschutz eingeschaltet, was wir auch der Nachbarschaft mitteilten. Danach ebbte es schlagartig ab. Das ist das am meisten bedrückende Gefühl, weil man weiß, irgendeiner in der Nachbarschaft hat einen im Visier, weil man Jude ist. Nun gehe ich sowieso nicht mit Kippa in der Gegend herum, meinen Davidstern trage ich unterm Hemd. Abstrakt weiß ich, dass es gegenwärtig gefährlich ist.

Wieder einmal sind Juden privat gezwungen, möglichst in die Anonymität abzutauchen. Was sagt das über den Zustand der deutschen Demokratie aus?

1981 hat es in West-Deutschland die Sinus-Studie gegeben, in der festgestellt wurde, dass 13 Prozent der Wahlbevölkerung ein gefestigtes, rechtsradikales, militantes Weltbild haben. Es gab damals große Aufregung. Wir Juden wussten immer, dass der Antisemitismus nicht mit dem 8. Mai 1945 verschwunden ist. Die EnqueteKommission des Deutschen Bundestages hat Antisemitismus zuletzt bei 20 Prozent der Bevölkerung festgemacht. Insofern wundern mich die hohen Umfragewerte der AfD überhaupt nicht.

Im Moment hängt die Angst eher mit Gewalt verherrlichenden pro-palästinensischen Demonstrationen zusammen. Auch an Berliner Universitäten trauen sich einige jüdische Studenten nur noch in Gruppen zu den Vorlesungen.

Auch das ist nicht neu. Eine meiner Töchter hat an der Technischen Universität Berlin studiert, sie hat viel Sorgfalt darauf gelegt, nicht als Jüdin erkannt zu werden. Dass es jetzt in der massiven Form auftaucht, hat mich allerdings doch erstaunt.

Es hat viel mit dem linken Antisemitismus zu tun, der neben dem islamistischen und dem rechtsradikalen existiert. Das will die Linke in ihrem postkolonialistischen Diskurs nicht wahrhaben.

Sie wirkten in Chefpositionen am Deutschen Theater, an der Staatsoper, an der Deutschen Oper oder am Berliner Ensemble. Berliner Kulturinstitutionen haben sich seltsam still verhalten in den vergangenen Wochen. Enttäuscht Sie das?

Ja sehr. Das macht mich traurig. Eine Ausnahme ist das Berliner Ensemble, das sich massiv auf die jüdische und die israelische Seite gestellt hat. In dem Fall kann ich sagen, dass es mir eine Ehre ist, für diese Institution als Geschäftsführender Gesellschafter tätig gewesen zu sein. Aber die enttäuschende Situation ist nicht nur auf die Kultur bezogen. Es ist erschreckend zu sehen, wie sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten abstrampeln, eine Äquivalenz zwischen Israel und der Hamas herzustellen. Man spricht etwa von Hamas-Kämpfern. Dabei handelt es sich um eine Mörderbande, die der gerechten Strafe zugeführt wird.

Was erwarten Sie von der Berliner Kultur?

Ich erwarte eine klare Haltung gegenüber Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Das findet gegenwärtig nicht statt. Wenn ich auf die Umfragewerte der AfD in den neuen Bundesländern schaue, dann wird mir angst und bange.

Aber Juden sollen in Deutschland bleiben?

Ja selbstverständlich. Deswegen betreiben wir das Jüdische Theaterschiff MS Goldberg. Wir sind als jüdische Einrichtung in Großbuchstaben klar zu erkennen. Auch wenn die aktuelle Pisa-Studie für Deutschland so negativ ist, so viel Lesefähigkeit dürfte noch vorhanden sein. Wir bekennen uns dazu, dass wir mit unseren Veranstaltungen jüdisches Leben in Gegenwart und Vergangenheit repräsentieren. Wir wissen, dass etwas getan werden muss. Unser Ansatz ist es, mit Kunst und Kultur einzuwirken.

Das Jüdische Kulturschiff ist seit gut einem Jahr unterwegs. Werden Sie sich jetzt neu positionieren?

Was wir entwickelt haben, trifft genau die Problematik. Wir wollen Menschen zusammenbringen, um einen offenen Diskurs in Gang zu bringen. Bei uns läuft gerade der kostenlose Workshop „Meet a Rabbi“, der für Schüler ab der 7. Klasse konzipiert ist. Über den Zuspruch bei den Berliner Schulen bin ich enttäuscht. Ich habe auch der Schulsenatorin Katharina Günther-Wünsch geschrieben und keine Antwort erhalten. Ich habe der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft geschrieben und warte heute noch auf Antwort. Vom Lehrerverband bekam ich keine Antwort. Den größten Zuspruch bekommen wir von der Polizei Akademie Berlin, die regelmäßig mit Polizeischülern aufs Schiff kommt, um sich von Rabbinern oder Kantoren jüdisches Leben und die Feste wie gerade Chanukka erklären zu lassen. Das Modell weiten wir jetzt auch auf den Islam aus. Wir sind im Gespräch mit muslimischen Organisationen. Dann wird man auch den Imam treffen können. Darüber hinaus entwickeln wir ein weiteres Format. In „Arche Noah“ sollen sich Christen, Juden oder Atheisten zu bestimmten Themen treffen können.

Was ist die Bilanz nach gut einem Jahr Theaterschiff, was muss nachjustiert werden?

Die Finanzierung muss nachjustiert werden. Wir erhalten keine Dauerförderung vom Land Berlin, wo unser Heimathafen ist. Als Klaus Lederer noch Kultursenator war, war ich mit der Verwaltung regelmäßig im Gespräch. Da wurden mir Steine statt Brot gereicht. Es wurden Programme vorgeschlagen, die überhaupt nicht auf uns passten. Ich fragte ihn, ob es für neue Projekte wie unseres keine Notfinanzierung gäbe? Das wurde kühl verneint. Da ich selber mal persönlicher Referent des West-Berliner Kultursenators Dieter Sauberzweig war, weiß ich, dass es immer einen Notfallfonds gab. Vom Bund bekommen wir eine kleine Projektförderung.

Am Brandenburger Tor wurden vom Bundeskanzler und einem Berliner Rabbiner am Donnerstag der große ChanukkaLeuchter entzündet. Auf Ihrem Theaterschiff wird darüber hinaus „Weihnukka“ gefeiert mit dem Hinweis, dass berühmte Christmas-Songs von „White Christmas“ bis „Rudolph the red nosed Reindeer“ von Juden geschrieben wurden.

Weihnukka ist eine alte Berliner Tradition. Liberale jüdische Familien hatten einen Weihnachtsbaum neben dem Chanukka-Leuchter stehen. Die Tradition ist in Berlin verloren gegangen durch die Schoa. Die Tradition wird aber in Amerika und teilweise in Großbritannien weiter gepflegt. Bei uns wird „O Tannenbaum“ ebenso gesungen wie traditionelle Chanukka-Lieder.

Wer ist eigentlich das Publikum des Jüdischen Theaterschiffs?

Das ist sehr gemischt wie überall im Theaterleben. Wenn Andrej Hermlin mit seiner Band spielt, dann ist das Schiff rappelvoll. Lesungen sind immer ein schwieriges Geschäft. Aber es lässt sich nie voraussagen, weil der Verkauf an der Abendkasse immer wichtiger wird.

Mit „shangHaimat oder Das ungewöhnliche Leben des Arthur Gottlein“ steht am 17. Dezember die nächste eigene Theater-Premiere bevor. Wer ist Arthur Gottlein?

Arthur Gottlein war ein jüdischer, österreichischer Regisseur, Filmemacher und Puppenspieler, der es 1938 schaffte, den Nazis nach Hollywood zu entwischen. Er arbeitete derart viel, dass man ihm nahelegte, er solle mal ein paar freie Tage machen. Er fuhr nach Manila und besuchte im November 1941 Freunde in Shanghai. Am 6. Dezember überfielen die Japaner Pearl Harbor und Gottlein saß in Shanghai fest. Dort gab es rund 5000 österreichische Juden, die auf Klein-Wien machten. Gottlein machte ein Puppenspiel-Theater auf, die Chinesen mochten es. 1949 ging er nach Österreich zurück. Sein Leben gehört auf die Theaterbühne.